15.09.2019 14:57:40

ROUNDUP: Verband sieht soziale Schieflagen in Städten - Zoff um Flächenfaktor

STUTTGART/MANNHEIM (dpa-AFX) - Die Lebensverhältnisse von Menschen in Städten unterscheiden sich nach Beobachtung des Städtetags oft stärker als die zwischen Stadt- und Landbewohnern. "Wir dürfen in der Diskussion der Förderung des ländlichen Raums die Städte nicht vergessen", mahnte Städtetagspräsident Peter Kurz. Der Sozialdemokrat ist auch Oberbürgermeister von Mannheim, wo das durchschnittliche Sterbealter im wohlhabendsten Stadtteil Niederfeld und im ärmsten Neckarstadt-West 13 Jahre auseinanderliegt. In Niederfeld liegt der Wert bei 82 Jahren, in der Neckarstadt-West bei 69 Jahren.

"Diese Daten lassen auf den vollkommen unterschiedlichen gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Status von Bewohnern ein und derselben Stadt schließen", sagte Kurz. Der angenommene pauschale Gegensatz zwischen Stadt und Land sei eine Fehlwahrnehmung. Finanzmittel dürften nicht den Städten entzogen und über einen Flächenfaktor im Gießkannenprinzip in ländliche Regionen ausgeschüttet werden.

Der Flächenfaktor, der bei Mittelzuweisungen des Landes die Besiedlungsdichte berücksichtigen soll, ist von großer Sprengkraft in der Koalition und der kommunalen Familie. CDU und Gemeindetag stehen für das neue Zuteilungskriterium. Die Grünen hingegen sind auf Städtetagskurs.

Die von der CDU-Fraktion angestrebte Umverteilung von Mitteln von den Städten auf das Land gehe an den Realitäten vorbei, sagte Kurz. Die CDU wiederum will von ihr diagnostizierte Nachteile großflächiger Kommunen mit rückläufiger Bewohnerzahl ausgleichen. Sie kann sich dabei auf den Koalitionsvertrag berufen: Darin ist ein Flächenfaktor angepeilt, um für gleiche Lebensverhältnisse zu sorgen.

CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart betonte: "Es muss im eigenen Interesse der größeren Städte liegen, dass der ländliche Raum angemessen ausgestattet ist, um eine Überforderung des Ballungsraums insbesondere in den Bereichen Wohnen, Verkehr, Klima zu vermeiden."

Der grüne Koalitionspartner kontert: "Für uns geht die pauschale Rechnung "großes Gebiet, große Ausgaben" nicht auf". Gutachten zeigten, dass kein maßgeblicher Zusammenhang zwischen der Größe einer Gemeinde und ihren kommunalen Ausgaben bestehe, sagte die kommunalpolitische Sprecherin Ute Leidig weiter. Große Kreisstädte und kleinere Kommunen dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Statt einen komplizierten Sonderfaktor einzuführen, könne das Land bestehende Instrumente entwickeln, darunter den Verkehrslastenausgleich, Sonderzuwendungen für die Feuerwehr und ÖPNV-Förderung.

Der Gemeindetag hingegen plädiert für eine Korrektur der von ihm als ungerecht empfundenen Verteilungssystematik. Ein Flächenfaktor würde gezielt den Flächengemeinden mit mangelnder Steuerkraft helfen. Nach Darstellung von Verbands-Präsident Roger Kehle herrscht Übereinstimmung mit dem Städtetag darin, dass der ländliche Raum gestärkt werden muss: "Es stellt sich also nicht die Frage des "ob", sondern des "wie"."

Im Vorschlag der CDU ist noch nicht festgelegt, in welchem Verhältnis die einzelnen Kriterien zueinander stehen. Nach Berechnungen des Städtetags kommt es auch bei nur sehr geringer Gewichtung des neuen Faktors zu enormen Verschiebungen bei den Zuweisungen. Setze man die Gewichtung mit 15 Prozent an, hätte nach Verbandsangaben Stuttgart 2018 rund 53 Millionen Euro weniger, Mannheim rund 17 Millionen Euro weniger erhalten. Freudenstadt im Schwarzwald als Stadt im ländlichen Raum hätte 2018 aber nur 79 000 Euro mehr an Zuweisungen bekommen. Der Faktor würde den größten Teil des Geldes betreffen, den das Land an die Gemeinden ausschüttet. Im Jahr 2018 waren das fast 6,4 Milliarden Euro. Etwa 50 bis 70 Städte würden dramatisch Mittel verlieren, während die restlichen Gemeinden in nur geringem Maße profitieren würden, erläuterte Kurz.

Die Klein- und Mittelzentren im ländlichen Raum müssten aber gestärkt werden, damit jüngere Menschen nicht in die urbanen Zentren abwandern. Diese seien einem weiterem Zustrom kaum gewachsen, sagte der Rathauschef der drittgrößten Stadt im Südwesten. Die CDU habe wohl die Städte abgeschrieben und wolle ihre Klientel mit einer plakativen Förderung des ländlichen Raums bei Laune halten.

Christdemokrat Reinhart betonte hingegen: "Eine Umverteilung von Stadt zu Land kann ich nicht erkennen." Im übrigen seien es gerade die dezentralen Strukturen, die Baden-Württemberg als Land so erfolgreich machten.

Der Flächenfaktor wird auch Thema in den Haushaltsberatungen für den Doppelhaushalt 2020/21 sein. Städtetagspräsident Kurz warnte vor einem massiven Konflikt mit dem Land, sollte der Flächenfaktor kommen. "Das würde auch die kommunale Familie zerreißen."/DP/men

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