05.10.2023 20:50:38

ROUNDUP 4: Keine Taurus-Raketen für die Ukraine - aber Patriot-Flugabwehr

(neu: Strack-Zimmermann)

BERLIN/GRANADA (dpa-AFX) - Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will trotz eindringlicher Bitten der Ukraine vorerst keine Taurus-Marschflugkörper in das Kriegsgebiet liefern. Stattdessen sagte er dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag am Rande des Europa-Gipfels in Granada ein weiteres Patriot-Flugabwehrsystem für die Wintermonate zu. Sein vorläufiges Nein zu Taurus begründete Scholz damit, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen werden könnte.

Bei den Waffenlieferungen in die Ukraine müsse beachtet werden, "was uns die Verfassung vorgibt und was unsere Handlungsmöglichkeiten sind", sagte Scholz vor Journalisten auf eine Frage nach den Gründen für seine Taurus-Entscheidung. "Dazu zählt ganz besonders die Tatsache, dass wir selbstverständlich gewährleisten müssen, dass es keine Eskalation des Krieges gibt und dass auch Deutschland nicht Teil der Auseinandersetzung wird."

Selenskyj würdigte auf dem Kurznachrichtendienst X die Bereitstellung des Patriot-Systems: "Ich bin dankbar für die Unterstützung Deutschlands bei der Verteidigung unserer Freiheit und unseres Volkes. Das ist auch die Verteidigung Europas und unserer gemeinsamen Werte." Zu Hause in Deutschland kritisierten die Union, aber auch einzelne Politiker der Koalitionspartner FDP und Grüne die Entscheidung gegen die Taurus-Raketen unterdessen scharf.

Scholz war von Anfang an skeptisch

Großbritannien und Frankreich liefern der Ukraine bereits Marschflugkörper der praktisch identischen Typen Storm Shadow und Scalp. Ende Mai fragte Kiew offiziell auch bei der Bundesregierung an, ob sie ihre Taurus mit einer Reichweite von 500 Kilometern bereitstellen kann. Das ukrainische Militär benötigt die Raketen, um russische Stellungen weit hinter der Frontlinie angreifen zu können.

Scholz stand einer Lieferung von Anfang an skeptisch gegenüber. Dahinter steckt die Befürchtung, dass wegen der großen Reichweite mit den Raketen auch russisches Territorium angegriffen werden könnte - auch wenn Kiew stets versichert hat, dies nicht zu tun. Im Sommer sah es zwischenzeitlich so aus, als könnte sich die Bundesregierung dafür entscheiden. FDP und Grüne machten Druck. Man fühlte sich an die Entscheidung über die Leopard-2-Panzer erinnert, bei der Scholz lange zögerte und dann doch grünes Licht gab.

Auch USA haben bisher nicht geliefert

Aber auch die USA haben sich bisher nicht zu einer Lieferung ihrer Raketen vom Typ ATACMS mit einer Reichweite von 300 Kilometern durchdringen können - auch wenn es immer wieder entsprechende Medienberichte gab. Das dürfte Scholz in seiner skeptischen Haltung bestärkt haben. Bei allen qualitativ neuen Schritten bei der militärischen Unterstützung der Ukraine hat er sich bisher daran orientiert, was die USA tun.

Schon beim letzten Treffen des Kanzlers mit Präsident Wolodymyr Selenskyj am Rande der UN-Vollversammlung in New York Mitte September zeichnete sich ab, dass es zunächst nicht zu einer Taurus-Lieferung kommen wird. Am Mittwoch berichtete dann zuerst die "Bild", dass die Ukraine die Taurus vorerst nicht erhalten werde. Das sei Kiew von deutscher Seite deutlich gemacht worden.

Großbritannien und Frankreich liefern Geodaten

Seine Gründe deutete Scholz vergangene Woche in einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses an. Zur Steuerung der Raketen sagte er nach dpa-Informationen, dass Großbritannien und Frankreich dabei Möglichkeiten hätten, die Deutschland nicht zur Verfügung stehen. Gemeint ist, dass beide Länder Geodaten für Raketenziele selbst liefern - Großbritannien soll dafür eigenes Personal in der Ukraine geschickt haben.

Zudem sollen deutsche Regierungsvertreter dem "Bild"-Bericht zufolge die Sorge geäußert haben, dass mit Taurus-Marschflugkörpern die Kertsch-Brücke zwischen dem russischen Festland und der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim getroffen werden könnte.

Entsendung von Personal gilt als rote Linie

Vor allem die Entsendung eigenen Personals in die Ukraine kommt für die Bundesregierung nicht infrage. Damit würde man sich in eine völkerrechtliche Grauzone zu einer Kriegsbeteiligung begeben. Mal ganz abgesehen davon, dass dafür auch die Zustimmung des Bundestags notwendig wäre.

Ein offizielles und endgültiges Nein zu den Taurus-Lieferung gibt es aber weiter nicht. Die zurückhaltende Kommunikation liegt wohl auch daran, dass eine formelle Entscheidung Russlands Präsident Wladimir Putin in die Hände spielen würde. Er könnte sie als Bröckeln der westlichen Unterstützung der Ukraine werten.

Scholz: Luftverteidigung "am allermeisten notwendig"

Scholz setzt nun weiter auf die Verstärkung der Luftverteidigung. Das sei das, "was jetzt am allermeisten notwendig ist", sagte er in Granada. Man müsse damit rechnen, dass Russland im Winter erneut versuchen werde, mit Raketen- und Drohnenangriffen Infrastruktur und Städte in der Ukraine zu bedrohen.

Im April hatten Deutschland, die Niederlande und die USA zunächst je ein Patriot-System an die Ukraine übergeben. Im August stellte Deutschland dann zwei weitere Patriot-Abschussrampen zur Verfügung. Deutschland hat die Ukraine auch mit zwei Einheiten des Luftverteidigungssystems Iris-T versorgt.

"Verheerendes Signal": Verärgerung bei den Koalitionspartnern

Die innenpolitische Diskussion über die Marschflugkörper dürfte Scholz auch in den nächsten Wochen nicht los werden. Aus den Reihen der Koalitionspartner Grüne und FDP wurde er am Donnerstag scharf kritisiert. Der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter sprach von einem "verheerenden Signal" an Moskau. Mangelnde Entschlossenheit und zähe Diskussionen über Waffensysteme bestärkten Russland nur in der Ansicht, den Krieg auf lange Sicht gewinnen zu können, sagte er im Deutschlandfunk. Er warf Scholz "Ängstlichkeit" vor.

Der FDP-Verteidigungspolitiker Marcus Faber sprach von einer "Verweigerungshaltung" des Kanzlers. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), sagte, die "Verzögerungstaktik" des Kanzleramts sei eine "Katastrophe" für die Menschen in der Ukraine. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin sei sie dagegen ein "Festtag".

Auch die Union bekräftigte ihre Forderung nach der Taurus-Lieferung: "Mit der Absage der Taurus-Lieferung bestätigt Scholz den Totalausfall Deutschlands als selbst ernannte Führungsnation für europäische Sicherheit und stößt unsere Partner wie Großbritannien und Frankreich vor den Kopf, die bereits Marschflugkörper liefern", sagte der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter der "Bild".

SPD-Generalsekretär Kühnert: Sollten Scholz vertrauen

Aus der Kanzler-Partei SPD kommt dagegen Zustimmung. "Wir alle sollten ihm weiter vertrauen, dass er die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit trifft - auch bei der Frage der Taurus-Flugkörper", sagte Generalsekretär Kevin Kühnert bei Welt TV.

Nach dem Treffen mit Selenskyj betonte Scholz, dass er alle Entscheidungen über die militärische Unterstützung der Ukraine weiterhin sorgfältig abwägen werde. Auch wenn der Krieg lange dauere, könne das ja nicht bedeuten, "dass die Abwägungen einmal aufhören"./mfi/DP/he

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