20.05.2016 19:45:41

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Börsen-Zeitung: Vox Populi und Mr. Market, Marktkommentar von Dietegen

Müller

Frankfurt (ots) - Selten, dass eine einzige, noch dazu weitgehend

unbekannte Person Aktien- und Devisenmarkt zugleich in Aufruhr

versetzt. Dem Präsidenten des Unterhauses des brasilianischen

Parlaments, Waldir Maranhão, ist dies kürzlich gelungen. Er hatte

überraschend das Amtsenthebungsverfahren gegen die brasilianische

Präsidentin Dilma Rousseff für ungültig erklärt. Damit schickte er

die Landeswährung Real kurzfristig um 4,6% und den Leitindex Bovespa

um 3,5% in den Keller (vgl. Chart). Der Spuk war von kurzer Dauer,

Währung und Börse erholten sich, Rousseff wurde schließlich doch

suspendiert.

Das Beispiel bedient zwei gängige Klischees: Politische Börsen

haben kurze Beine. Und wenn überhaupt, spielt Politik vor allem auf

den Finanzmärkten in Schwellenländern eine Rolle. Beides ist eine

Fehleinschätzung. In den vergangenen zehn Jahren haben europäische

Aktien gemessen am MSCI Europe Index etwa nicht viel besser

abgeschnitten als Schwellenländermärkte. Es ist nicht von der Hand zu

weisen, dass dies mit politischer Instabilität und Unsicherheit zu

tun hatte: Das europäische Schuldendrama und die Befürchtungen um ein

Auseinanderbrechen der Währungsunion haben ihre Spuren im Wachstum

und im Vertrauen von Investoren hinterlassen.

Es gibt Marktbeobachter wie der Vermögensverwalter William Blair,

die meinen, seit dem Ende des Kalten Kriegs seien politische

Extremrisiken wie ein Nuklearschlag einer Supermacht von der

Bildfläche verschwunden. Dafür sei die Welt permanent unsicherer

geworden, geprägt von größeren und kleineren Konflikten. Dieser Sicht

ist viel abzugewinnen. Die Welt ist multipolar geworden, die Zahl

internationaler kriegerischer Konflikte hat in den letzten Jahren

zugenommen. Auch sind vermeintlich stabile Gefüge in Bewegung. Eine

Sorge ist etwa, ob in Europa weitere autoritär und

interventionistisch geprägte Regierungen Einfluss gewinnen werden.

Die US-Großbank Citigroup spricht in diesem Zusammenhang von

"Vox-Populi-Risiken" sowie "neuen sozioökonomischen Risiken", die

ihre Kraft auch aus Umverteilungsfragen sowie einer terroristischen

Bedrohungslage ziehen.

Die nächsten eineinhalb Jahre werden neue Anhaltspunkte geben,

wohin Europa steuert: In Deutschland und in den Niederlanden stehen

2017 Parlamentswahlen an, in Frankreich Präsidentschaftswahlen. Eine

Antwort müssen auch die spanischen Wähler finden, wem sie ein Mandat

für die Führung ihres defizitgeplagten Landes geben wollen. Schon im

Juni werden die britischen Wähler über die EU-Mitgliedschaft der

Insel entscheiden. Und am 8. November wird sich zeigen, ob in den USA

der von Wall Street gefürchtete republikanische Kandidat Donald Trump

das Rennen macht oder die als moderat geltende Demokratin Hillary

Clinton.

Die Börse ist eine Wahl- und eine Gewichtungsmaschine, sagte der

legendäre US-Investor Benjamin Graham einmal: Langfristig entscheiden

Fundamentaldaten, kurzfristig die Launen der Anleger. Die

Charaktereigenschaft von Mr. Market trifft also in politischen Fragen

auf die kurzfristigen Launen der Wähler, was ein komplexes, mitunter

explosives Gemisch ergibt. Finanzmarkt und Politik sind beides

vielschichtige, sehr volatile, anpassungsfähige Systeme mit

Rückkoppelungseffekten. Damit entziehen sie sich allen langfristigen

Prognosen. Doch ist unstrittig, dass Politik, Regulierung und Markt

sich gegenseitig beeinflussen. Politische und regulatorische

Veränderungen können genauso Ursachen für Marktverwerfungen sein wie

eine Folge davon, wenn etwa der Kapitalmarkt signalisiert, dass die

Schuldenlast eines Staates oder das Geschäftsmodell eines

Unternehmens untragbar geworden ist.

Noch fehlt der überzeugende Ansatz, wie politische Risiken in

ihren Auswirkungen auf die Finanzmärkte erfassbar sind. In den

Kinderschuhen stecken Experimente mit Plattformen, die sich hier die

"Weisheit der Masse" zunutze machen wollen. Market und Vox Populi

sind beide schwer fassbar. So ist trotz Flüchtlingskrise und Sorgen

vor einem EU-Austritt Großbritanniens etwa der Euro Break-up Index

des Analysehauses Sentix im April auf niedrigem Niveau geblieben. Mit

16,7 % liegt er weit unter dem Höhepunkt von 73%. Den hatte der Index

im Juli 2012 erreicht, ein Jahr nach einem Einbruch von fast 20 % am

Aktienmarkt. Und doch provozieren Umfragen zum Ausgang des

Brexit-Referendums schön regelmäßig neue Kursschwankungen. Politische

Risiken zu gewichten, fällt Mr. Market so schwer wie Fundamentaldaten

zu interpretieren - auch er ist eben zunächst eine kurzfristig

geprägte "Voting Machine".

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