17.11.2017 21:57:58
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Mittelbayerische Zeitung: "Ritt auf der Rasierklinge" / Ein Kommentar der Mittelbayerischen Zeitung zu den Jamaika-Sondierungen
Regensburg (ots) - Beim letzten schwarz-gelben Bündnis, das
Deutschland von 2009 bis 2013 regiert hatte, gab es die verbalen
Entgleisungen erst im Laufe der Wahlperiode. Den damaligen Vorwurf
der Liberalen, die CSU benehme sich wie eine "Wildsau", konterte der
damalige CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt mit der Bemerkung
"Gurkentruppe" an die Adresse der FDP. So gesehen sind die jetzigen
wechselseitigen Beschimpfungen der Jamaika-Partner insofern von
Vorteil, weil man sich bereits vor dem gemeinsamen Regieren sagt, was
man von den anderen wirklich denkt. Aber vielleicht sind die Attacken
auch nur Ausdruck der eigenen Ratlosigkeit in einer extrem
schwierigen, aber auch historisch einmaligen Situation. Bis zum 24.
September waren sich vor allem CSU, FDP und Grüne in gegenseitiger
Feindschaft zugetan. Vor dem Wahltag hätte wohl kein Christsozialer,
kein Liberaler und auch kein Grüner im Traum daran gedacht, dass man
in die Verlegenheit kommen könnte, ausgerechnet mit dem schärfsten
politischen Kontrahenten einmal gemeinsam regieren zu müssen. Von
wollen kann keine Rede sein. Vier dermaßen konträr ausgerichtete
Parteien in einer Koalition zu vereinen, ist wie ein Ritt auf der
Rasierklinge. Freilich hat der Wähler nun einmal so grandios
entscheiden. Eigentlich kann nur ein Bündnis aus Schwarzen, Gelben
und Grünen das Land regieren. Die GroKo wurde klar abgewählt. Seit
rund vier Wochen wird nun Jamaika sondiert. Von außen erscheint es,
als sei da ein Hamsterrad zugange. Es dreht sich unentwegt, kommt
jedoch keinen Millimeter von der Stelle. Dabei wird oft vergessen,
dass hier politische Welten, lange gepflegte Ideologien und ganz
unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen. Die tage- und
nächtelangen Jamaika-Sondierungen ermüden das Wahlvolk zunehmend, was
verständlich ist. Doch die Sache verläuft auch deshalb so quälend,
weil bei jedem Konflikt die alten Feindbilder aufbrechen. Eine
wirkliche Basis der Zusammenarbeit, gar so etwas wie Vertrauen, hat
sich in den endlosen Sondierungsrunden noch nicht eingestellt. Und
die Fliehkräfte in einer Jamaika-Regierung, wenn sie überhaupt
zustande kommt, sind riesig. Inzwischen versucht Angela Merkel, die
lange Zeit die große Moderatorin gab, den Gesprächen Struktur und
Zielorientierung zu geben. Das ist auch bitter nötig, soll Jamaika
nicht an den Baum fahren, bevor es überhaupt richtig losgeht. Eine
Hoffnung von Merkel jedoch, die widerspenstigen Jamaikaner in der
vorletzten Nacht weichzukochen und zu Kompromissen zu zwingen, ging
erst einmal nicht auf. Die CDU-Chefin hat vielleicht das größte
Interesse von allen Verhandlungspartner, zum Ziel zu kommen.
Scheiterte Jamaika, wäre ihre vierte Kanzlerschaft wahrscheinlich
dahin. Der aufgestaute Frust in CDU, aber noch mehr in der CSU, über
das schwache Wahlergebnis könnte die Langzeitkanzlerin den Job
kosten. Unter anderen Vorzeichen trifft das auch auf Horst Seehofer
zu. Er ist, bei Strafe seiner schnellen Entmachtung, auf vorzeigbare
Sondierungsergebnisse angewiesen, die er in Bayern den unzufriedenen
Mandatsträgern und der Basis vorlegen kann. Seht her, das habe ich
geschafft. Doch während man das eine Herzensanliegen der Partei, die
erweiterte Mütterrente, vermutlich hinbekommen wird, weil der
finanzielle Spielraum groß genug sein dürfte, wurde die Verhinderung
der Familienzusammenführung für Kriegsflüchtlinge zu einer Prestige-
und Glaubwürdigkeitsfrage aufgeblasen. Das ist sie aber gar nicht,
wenn man die realen Zahlen nüchtern betrachtet. Doch selbst für
diesen vertrackten Konflikt ließe sich ein Kompromiss finden. Es
müssten nur alle wollen.
OTS: Mittelbayerische Zeitung newsroom: http://www.presseportal.de/nr/62544 newsroom via RSS: http://www.presseportal.de/rss/pm_62544.rss2
Pressekontakt: Mittelbayerische Zeitung Redaktion Telefon: +49 941 / 207 6023 nachrichten@mittelbayerische.de
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