15.12.2015 22:32:39

Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Claudia Bockholt zum EU-Grenzschutz

Regensburg (ots) - Das Stöbern in Zeitungsarchiven beschert erstaunliche Déjà-vus: "Flüchtlingsstrom aus Nordafrika: Bayern droht mit Grenzkontrollen zu Österreich" las man am 10. April. "Flüchtlingsansturm spaltet Europa" einen Tag später. Erscheinungsjahr: 2011. Schon vor vier Jahren wurde in der EU darüber gestritten, ob und wie man sich gegen die anschwellenden Flüchtlingsströme abschotten soll. Eine mehr als angemessene Bedenkzeit ist seither verstrichen. Und statt damals weniger als 100 000 illegalen Grenzübertritten pro Jahr zählt Frontex jetzt mehr als eineinhalb Millionen. Hätten die EU-Staaten nicht die schwierigen und unangenehmen Fragen verdrängt und Polit-Mikado gespielt - wer sich nicht bewegt, macht nichts verkehrt -, hätten sie rechtzeitig zu einem belastbaren Konsens und gemeinsamen Regelungen kommen können, wie mit der neuerlichen Migrationswelle umzugehen ist: Wieviele Hilfesuchende lassen wir herein? Wer darf kommen und wer darf bleiben? Doch die Europäische Union mit ihren 28 Mitgliedstaaten ist eben kein wendiges Leichtboot, sondern ein schwerfälliger Ozeanriese. Dessen Besatzung ist sich nicht einmal einig, wohin die Reise gehen soll. Statt mit einer Stimme zu sprechen, erzeugte sie zuletzt in 24 Sprachen grelle Dissonanzen. Auch Deutschland hat die fällige Selbstbefragung zu lange vor sich hergeschoben. Und während der gesellschafts- und innenpolitische Eiertanz um das Reizwort "Obergrenze" weitergeht, haut die EU-Kommission nebenan auf den Tisch. Frontex wird auf Streife geschickt. Ein "Amt für Rückführungen" soll für effizientere Abschiebung sorgen. Mehr Grenzschutz: Das bedeutet nicht nur, dass illegale Grenzübertritte in legale Bahnen gelenkt werden sollen. Es heißt vor allem: weniger Flüchtlinge. Die personell und finanziell aufgerüstete gemeinsame Agentur soll es also richten. Allerdings hat die EU sie in der Flüchtlingskrise schon einmal absaufen lassen. Die Aufgabe von Frontex ist die Sicherung der EU-Außengrenzen, nicht die Seenotrettung. In diesem Dilemma blieb die Agentur allein auf hoher See. Wie Frontex künftig, als schnelle Speerspitze des "Europäischen Grenz- und Küstenschutzes" die heftige Zerreißprobe zwischen Sicherheit einerseits und Humanität andererseits bestehen soll, ist völlig unklar. Es ist allerdings zu verlockend, das moralische Dilemma der EU-Staaten, die eigentlich den gemeinsamen Asylrichtlinien verpflichtet sind, an eine anonyme Einrichtung weiterzureichen. Für Frontex trägt jeder und doch keiner allein die Verantwortung. Angela "Wir schaffen das" Merkel hat sich schon ohne Zaudern hinter die Pläne der EU-Kommission gestellt. Das erspart ihr einen schmachvollen Teil-Rückzug von den im Sommer proklamierten hehren Zielen. Sie kann dabei bleiben: Schutzbedürftigen muss man Schutz gewähren - künftig allerdings erst einmal außerhalb Deutschlands. Der Name Frontex weckt hässliche Assoziationen: Er steht für "frontières extérieures", also Außengrenzen. Doch in der Kraftreiniger- und Unkrautbekämpfungsbranche signalisiert die Endung "-ex": Weg damit! Die meisten osteuropäischen EU-Länder würden sich freuen, wenn eine neu aufgestellte Grenzschutzagentur die Flüchtlinge abschrecken und/oder stoppen könnte. Und auch die 50 Prozent Einheimischen, die laut jüngstem ZDF-Politbarometer nicht glauben, dass Deutschland die Integration der bereits ins Land gekommenen Flüchtlinge bewerkstelligen kann, würden mehr oder weniger hörbar aufatmen. Ganz ungeschoren kommt jedoch keiner davon. Nicht finanziell und nicht moralisch. Die EU hat das Problem lediglich vorläufig von der Hausschwelle in den Vorgarten gekehrt.

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