13.09.2016 23:02:42

Mittelbayerische Zeitung: EU vor der Zerreißprobe - In Brüssel wird Klartext geredet - auch weil es den Anschein hat, dass sich jeder selbst der Nächste ist. Von Daniela Weingärtner

Regensburg (ots) - Die Zeiten sind vorbei, wo die osteuropäischen Beitrittskandidaten möglichst widerspruchs- und reibungslos dem Leitbild entsprechen wollten, das die westlichen Gründerstaaten vorgegeben hatten. Nun fordern sie, die EU müsse sich ihren Vorstellungen entsprechend zu einem losen Staatenbund wandeln. Die meisten Alteuropäer und die EU-Kommission hingegen glauben, dass die Schrecken der Globalisierung nicht durch nationale Abschottung zu bannen sind. Luxemburgs Außenminister forderte gar, Ungarn aus der Union zu werfen - und das wenige Tage vor dem Sondergipfel in Bratislava, von dem ein Signal der Einheit Richtung Großbritannien gesendet werden soll. In der EU kommt die ganze schmutzige Wäsche auf den Tisch, nachdem ein Familienmitglied türenschlagend das Haus verlassen hat. Ob die EU aus dieser tiefgreifendsten Krise ihrer Geschichte gestärkt, geschwächt oder geschrumpft hervorgehen wird, vermag heute noch niemand zu prophezeien. Klar ist nur, dass die Tage säuselnder Diplomatie vorbei sind. Jetzt wird Klartext geredet. Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo will Reformen, die es künftig unmöglich machen, ihr Land an den EU-Pranger zu stellen, wie es derzeit geschieht. Die EU-Kommission verlangt nämlich von Polen, Bedenken gegen eine Entmachtung des Obersten Gerichts auszuräumen. Andernfalls drohen Sanktionen. Ungarns Premier Victor Orban wiederum versucht, seine Kritiker in Brüssel und den westlichen Hauptstädten mit Volkes Stimme zu beeindrucken. In einem Referendum wird er am 2. Oktober sein Volk fragen, ob es mit der von Brüssel verordneten Flüchtlingspolitik einverstanden ist. Die Antwort dürfte eindeutig ausfallen. Luxemburgs Außenminister meint deshalb, in seiner heutigen Form hätte das Land keine Chance auf Aufnahme in die EU. Ähnliches wird er vielleicht bald auch von Österreich sagen können, dessen Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer von der FPÖ die Reformpläne der Osteuropäer lautstark unterstützt - oder von Frankreich, dessen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen mit dem Austritt ihres Landes aus der Eurozone liebäugelt. Hätten die westeuropäischen Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur an den kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolg und die Stimmung im Wahlvolk gedacht, wären die meisten osteuropäischen Staaten noch heute keine EU-Mitglieder. Doch den Wählern wurde erklärt, dass ein prosperierendes Osteuropa mit einem sich dem EU-Durchschnitt nähernden Lebensniveau mittelfristig allen Europäern nützen werde. Das akzeptierten die Wähler der alten West-EU zwar nur zähneknirschend, doch sie hielten den pro-europäischen Parteien im Großen und Ganzen die Treue. Das Gefährliche an der jetzigen Lage ist, dass nicht nur in den relativ jungen Mitgliedsstaaten des Ostens, sondern auch in vielen Staaten der alten West-EU wie Österreich, Frankreich oder Deutschland antieuropäische Programme mehrheitsfähig sind. Die Grundsatzdebatte über die Zukunft Europas muss jetzt geführt werden - auch wenn die Gefahr besteht, dass sie die Union auseinanderreißt. Solange die grundsätzliche Frage nicht beantwortet ist, wo sich die Europäer gemeinsam stärker fühlen und wo sie künftig lieber wieder national entscheiden wollen, solange kann die EU die vor ihr liegenden Aufgaben nicht stemmen. Die Warnung des Luxemburger Außenministers ist berechtigt. Wer sich an der Wahlurne dafür ausspricht, die Frontstaaten mit ihrem Flüchtlingsproblem allein zu lassen, der soll wissen, dass er den Rauswurf aus der EU riskiert. Denn eine Gemeinschaft, in der sich jeder selbst der Nächste ist, nützt niemandem.

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