25.04.2013 20:17:58
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Landeszeitung Lüneburg: Profiteure sind die Populisten / Römischer Historiker Sabbatucci: Eine Koalition von Linken und Rechten ebnet in Italien den Weg für extreme Kräfte
Die Präsidentenwahl bietet erneut ein beunruhigendes Bild: ein 87-Jähriger als einzige Hoffnung. Wie kann die politische Elite Italien vor dem Abgrund retten, wenn sie nicht mal fähig ist, auch nur eines der kleineren Probleme des Landes zu lösen?
Giovanni Sabbatucci: Dass die Lage dramatisch ist, beweist die Tatsache, dass ein fast 88-Jähriger gezwungen werden musste, im Amt zu bleiben, obwohl dieser eindeutig nicht kandidieren wollte. Dies allein ist alarmierend. Trotz der zahlreichen Unterschiede wird man an die Wiederwahl des 86-jährigen Hindenburg 1932 in Deutschland erinnert. In beiden Fällen ist das politische System nicht in der Lage gewesen, gemeinsam eine geeignete Lösung für die Probleme des Landes zu finden. Mit der Wahl Napolitanos, die sehr wahrscheinlich mit einer Regierungsbildung verknüpft ist, wird diese Lösung gesucht. Ob dies gelingt, das ist ein anderes Thema. Denn viele komplizierte Aufgaben stehen an, von der Staatsverschuldung, über die sozialen Spannungen, die Armut bis zum Funktionieren des politischen Systems, das jetzt nur eine Notlösung hervorgebracht hat. Die ganze Arbeit steht noch an.
Unternehmen bitten um Hilfe, zu viele Familien stürzen in die Armut, acht Selbstmorde im Monat zeigen die ganze soziale Not. Was muss noch passieren, damit bei den Verantwortlichen Solidarität und Verantwortung ausgelöst werden?
Sabbatucci: Die Lage ist dramatisch, das ist vollkommen eindeutig. Im Gegensatz zu dem, was viele meiner Landsleute denken, sehe ich vor allem eine nationale Verantwortung. Die Krise trifft Italien besonders hart, weil das Land zu viele Jahre über seine Verhältnisse gelebt hat. Und deshalb scheitert nun jegliche Lösung für die gravierenden sozialen Probleme an diesem gigantischen Schuldenberg, ohne dessen Abbau die Glaubwürdigkeit abhanden kommt, und sei es nur, um Schuldtitel zu platzieren. Diese Schwierigkeit kann nicht leicht und schmerzlos überwunden werden. Sicher ist gemeinsame Arbeit notwendig. Nun, damit sich Politiker über etwas verständigen, muss eine Grundlinie gefunden werden. Berlusconi -- stärkster Befürworter einer Koalition aus PD (Demokratische Partei) und PdL (Volk der Freiheit) -- bekräftigt etwa sein Rezept für einen Ausweg aus der Krise: die Rückerstattung der Immobiliensteuer IMU. Andere fordern, dass die nächste Regierung an der Agenda Monti festhalten müsse. Eine Plattform für eine Verständigung ist meiner Ansicht nach in weiter Ferne.
Die Bedingungen für die von Letta jetzt angestrebte große Koalition, die übliche Lösung in jeder anderen europäischen Demokratie, wie etwa 2005 in Deutschland, sind Ihrer Meinung nach also nicht da?
Sabbatucci: Wir werden zu etwas Ähnlichem kommen. Aber der Vergleich mit der Großen Koalition oder ähnlichen Erfahrungen in Europa ist nicht haltbar. Bedauerlicherweise haben wir keine christlich-demokratische, christlich-soziale, liberalkonservative Partei auf der einen Seite und eine sozialdemokratische Partei auf der anderen. Die Protagonisten unserer politischen Bühne weichen vom klassischen europäischen Modell ab, das, mag es auch kriseln, immer noch einen soliden Bezugspunkt bildet. Wir haben eine Rechte, die Kräfte beherbergt, die zum Teil gegen das System sind, aber vor allem populistische Tendenzen vereinigt. Die Führung Berlusconis, der Interessenkonflikt, die Allianz mit der Lega Nord sind einige der Aspekte, die unsere Rechte einmalig machen. Und dies macht es dem Mitte-Links-Bündnis sehr schwer, eine langfristige Vereinbarung mit der rechten Partei zu erzielen. Auf der anderen Seite existieren auch in unserer Linken Spannungen radikaler, extremistischer, populistischer Art. Die Protestbewegung "Fünf Sterne" holte ein Viertel der Stimmen -- ein derartiger Erfolg wäre in anderen Ländern undenkbar -- auch, weil sie sich als linke Bewegung präsentiert, obwohl sie eine sehr populistische ist mit beunruhigenden, zweideutigen Zügen. So konnte Grillo den Linken viele Stimmen wegnehmen. Das sind alles Anomalien, die die Lage in Italien so anders machen. Kommt die große Koalition, wie es abzusehen ist, ist das Risiko groß, dass die Entwicklung wie in Deutschland Anfang der 30er-Jahre verläuft: Die notwendige Politik der Sparsamkeit und die nur geringe Abpufferung der sozialen Härten stärkt die populistischen Parteien. Es besteht die Gefahr, dass die "große Koalition" sich aufreibt und den Weg so für extreme Kräfte ebnet.
Der britische Journalist Nicholas Farrell sieht zahlreiche Parallelen zwischen Grillo und Mussolini. Wie der Duce gründete der Ex-Komiker eine Bewegung, die für sich in Anspruch nimmt, die eigentliche Stimme des Volkes zu sein; Parteien seien nicht die Lösung, sondern das Problem. Wie Mussolini versteht er sich als Kraft der Säuberung, die endlich mit dem korrupten System aufräumen werde. Jetzt spricht er sogar von einem Putsch. Was halten Sie von dem Vergleich?
Sabbatucci: Ich bin der Meinung, dass man mit Vergleichen immer vorsichtig sein muss. Die Fünf-Sterne-Bewegung zeigt gewiss, wie ich bereits sagte, beunruhigende Züge: So will sie Parteien abschaffen und sogar die Demokratie, wie wir sie kennen. Die, die auf Vertretung basiert, soll zugunsten einer Internet-Demokratie gekippt werden. Das ist nicht nur besorgniserregend, sondern macht Grillo zu einem unmöglichen Gesprächspartner. Aber abgesehen von meinem Misstrauen gegenüber dieser Art und Weise des Mobilisierens mit dem Internet als Kommunikationsplattform müssen wir umsichtig mit Vergleichen umgehen. Die faschistische Bewegung war eine bewaffnete Bewegung, wendete Gewalt an. Wesensmerkmale aller faschistischen Bewegungen, inklusive des Nazionalsozialismus, waren die Gewalt gegenüber den Gegnern und das Unterdrücken jeglicher demokratischer Vorgehensweise.
Grillo plädiert auch für die Abschaffung der Gewerkschaften. Ist das nicht alarmierend?
Sabbatucci: Für etwas plädieren ist eine Sache, mit Uniformen umherlaufen und Menschen schlagen oder töten ist eine andere. Diesen Unterschied müssen wir machen. Denn eines steht fest: Dinge tauchen niemals in der selben Form noch einmal auf, also ist die Fünf-Sterne-Bewegung nicht der Faschismus. Einige ihrer Erscheinungen machen einen allerdings völlig ratlos.
Grillo hat Berlusconi ein großes Geschenk gemacht, indem er sich geweigert hat, mit Bersani zu verhandeln...
Sabbatucci: Es sind doch die Wähler, selbst wenn es diesmal weniger waren, die Berlusconi ein Geschek gemacht haben. Sie haben einen Totgesagten wieder auferstehen lassen und dessen Partei zur zweiten oder dritten Kraft Italiens -- je nachdem wie man rechnet -- gemacht. Berlusconi hat seine Fähigkeit bewiesen, Wahlkampf zu machen, selbst mittels fragwürdiger Versprechen. Bersanis Bemühungen um einen Dialog mit der Protestbewegung haben seiner Demokratischen Partei stark geschadet. Berlusconi war wenigstens in dieser Situation konsequent, indem er für eine große Koalition mit seiner Partei plädierte. Anders als die PD ist die PDL hinter seinem Anführer geschlossen geblieben. Also auch die PD hat Berlusconi ein Geschenk gemacht.
Die PD zerfleischt sich selbst, wie das Feuer der "Heckenschützen" auf Prodi zeigt. Wie groß ist die Gefahr, dass sich Italien, eines der Gründungsmitglieder der EU, ohne ein geschlossenes Mitte-Links-Lager aus Europa entfernt?
Sabbatucci: Die Gefahr ist sicherlich da, denn damit eine europäische Demokratie gut funktioniert, muss es auch ein vitales, glaubwürdiges Mitte-Links-Lager geben. Nur, auch die italienische Demokratische Partei zeigt Anomalien. Einige ihrer Anhänger sind mit Grillo auf die Straße gegangen. Stellen Sie sich vor: Es ist als würden in Deutschland die Sozialdemokraten zusammen mit den Piraten demonstrieren.
Die Fünf-Sterne-Bewegung will eine Partizipation über Internet, Online-Referenden. Der Bürger kann per Klick mitregieren. Ist eine partizipative Politik eine Politik, die wirklich offen für alle ist?
Sabbatucci: In sich ist die partizipative Politik ein richtiger Anspruch, der aber eine institutionelle Lösung braucht. Das heißt, dass die Organisationen, die in der Vergangenheit als Bindeglied zwischen Bürgern und Institutionen fungiert haben, weiter funktionieren sollen. Warum sollten die Parteien abgeschafft werden? Wenn solche Vorschläge so vage bleiben, droht die Gefahr, dass es im Namen des Mythos einer partizipativen Demokratie zur Demokratieverweigerung kommt. Der Erfolg der faschistischen, parafaschistischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts basiert nicht so sehr auf ihrer offenen Abneigung gegenüber der Demokratie, sondern auf der Kritik, die sie im Namen der Utopie einer partizipativen Demokratie übten. Eines dürfen wir nicht vergessen: Eine Demokratie bleibt eine Demokratie, solange sie auf nachprüfbaren, formalisierten Vorgehensweisen basiert. Grillos Vorwahlen laufen meiner Meinung nach auf eine Deaktivierung der Demokratie hinaus, denn niemand weiß, wie viele Bürger überhaupt teilnehmen und wie die Ergebnisse zustande kommen. Ich weiß auch nicht, warum die "Grillini" das Volk sein sollen und nicht ich, der anderer Meinung ist. Solange diese unauthentischen Protestformen ohne institutionellen Inhalt nicht beseitigt sind, von partizipativer Demokratie zu reden, ist Unsinn.
Das Interview führte Fanny Pigliapoco
Originaltext: Landeszeitung Lüneburg Digitale Pressemappe: http://www.presseportal.de/pm/65442 Pressemappe via RSS : http://www.presseportal.de/rss/pm_65442.rss2
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