20.10.2008 08:06:00
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HINTERGRUND: Lehman-Pleite belastet Zertifikate-Branche - Ruf nach Transparenz
Andreas Köchling von der Feri EuroRating Services AG fühlt sich im Rückblick gar an die Situation am Neuen Markt erinnert. So hätten viele Zertifikate-Anleger in den letzten Jahren nur auf die kurzfristige Rendite geschielt und damit zum Teil auf Produkte gesetzt, deren Konstruktion sie nicht verstanden. Die Verunsicherung unter den Anlegern sei nun groß, sagte Carsten Heise, Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Zudem drehten sich 95 Prozent der telefonischen Anfragen an ihn vor allem um die Insolvenz des Emittenten Lehman Brothers und die Frage, ob Ansprüche geltend gemacht werden könnten, berichtete der Experte.
SCHWIERIGE VERTRIEBSSITUATION
Lehman Brothers hatte in Deutschland etwa 170 Zertifikate im Gegenwert eines hohen zweistelligen Millionenbetrages emittiert, die nun vom Ausfall bedroht sind. Denn Zertifikate sind im Gegensatz zu Fondseinlagen kein Sondervermögen, sondern Schulverschreibungen. Damit unterliegen sie grundsätzlich dem Risiko, dass der Emittent zahlungsunfähig wird. Und anders als im Fall des ins Schlingern geratenen Zertifikate-Anbieters Bear Stearns, der im Frühjahr von der US-Bank JPMorgan übernommen wurde, hat sich für Lehman Brothers kein rettender Helfer in letzter Minute gefunden. Dessen Verbindlichkeiten werden somit nicht übernommen. Vielmehr wird die Bank derzeit zerschlagen.
Allerdings habe das Problembewusstsein unter den Anlegern jüngst zugenommen, fuhr der DSW-Experte Heise fort. Eine im September durchgeführte Umfrage des Fachmagazins "Zertifikateberater" unter 116 Bank- und Vermögensberatern scheint diesen Trend zu bestätigen: Ihr zufolge geben knapp 70 Prozent der Befragten an, "deutlich häufiger" als früher auf das Thema "Emittentenqualität" angesprochen zu werden. Offensichtlich fällt es der Zertifikate-Branche schwer, die Bedenken der Anleger zu zerstreuen. In derselben Umfrage bezeichnen fast 80 Prozent der Berater die derzeitige Vertriebslage als "sehr schlecht" oder "eher schlecht".
DEUTLICH MEHR VERKÄUFE ALS KÄUFE
Die ernüchternden Umfrage-Daten schlagen sich inzwischen in verschiedenen Umsatzstatistiken nieder. An der Börse Stuttgart etwa nahm das mit Zertifikaten erzielte Umsatzvolumen im September zwar stark zu, jedoch wurden deutlich mehr Verkäufe als Käufe getätigt, sagte ein Sprecher des Haupthandelsplatzes für derivative Produkte in Deutschland. Auch an der Frankfurter Börse ergab sich auf ihrem Zertifikate-Portal Scoach ein ähnliches Bild. Als Verkäufer traten an den Handelsplätzen viele Privatanleger auf, die sich entweder von Zuhause aus per Online-Order von ihren Anlagen trennten oder ihrer Hausbank einen entsprechenden Auftrag erteilten.
Auch ein Blick auf den außerbörslichen Zertifikatehandel liefert ein ähnliches Bild. Dieses Marktsegment umfasst zum Beispiel den Handel über Online-Broker oder über die Emissionshäuser direkt und macht nach Angaben des Deutschen Derivate Verbandes (DDV) etwa 60 Prozent des gesamten Zertifikatemarktes aus.
BRANCHENVERBAND INFORMIERT ÜBER EMITTENTEN-BONITÄT
Der DDV hat inzwischen auf den Wunsch der Anleger nach mehr Transparenz reagiert und stellt seit kurzem tagesaktuelle Informationen zu der Bonität von Zertifikate-Emittenten zur Verfügung. Die Informationen basieren auf sogenannten Credit Spreads, also auf Kreditderivaten zum Handeln von Ausfallrisiken von Anleihen. Dabei geben die auf der Homepage des Verbandes angegebenen Basispunkte die Risikoprämie auf die Rendite sichererer Staatsanleihen an. Diese wird derzeit am Markt verlangt, um sich gegen einen Ausfall der Schuldverschreibungen des jeweiligen Emittenten abzusichern. Sie können noch zeitnäher und genauer als manche Ratings Aufschlüsse über die Zahlungsfähigkeit eines Zertifikate-Anbieters geben. Grundsätzlich gilt: Eine geringe Risikoprämie spricht für eine hohe Bonität und umgekehrt.
"Unseres Erachtens sind alle Informationen hilfreich, die eine bessere Einschätzung der Emittenten-Bonität ermöglichen", kommentierte DSW-Experte Carsten Heise die jüngste Initiative des Zertifikate-Verbandes. "Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung." Laut den Daten des DDV besteht das geringste Ausfallrisiko derzeit bei Zertifikaten von BNP Paribas. Die französische Großbank hat jüngst von der Finanzkrise profitiert und das Geschäft der Fortis-Bank in Belgien und Luxemburg übernommen.
RATINGAGENTUREN WOLLEN TRANSPARENZ ERHÖHEN
Auch die Ratingagenturen werden sich dem Ruf nach einer stärken Berücksichtigung der Bonität kaum entziehen können. Diese wurden zuletzt kritisiert, weil sie nicht ausreichend auf eine mögliche Pleite von Lehman hingewiesen hätten. Die Agentur Feri EuroRating Services AG hat den aktuellen Fall und die Turbulenzen an den Kapitalmärkten indes zum Anlass genommen, den Start ihres neuen Zertifikate-Ratings vom dritten ins vierte Quartal 2008 zu verschieben.
Derzeit liefen die Vorbereitungen hinsichtlich der Datenqualität der etwa 300.000 zugrunde liegenden Zertifikate, sagte Projektleiter Andreas Köchling. Es würden weitere Filter eingebaut, um zu große Schwankungen der den Zerfitikaten zugrunde liegenden Wertpapiere abzufedern. Auch der Aspekt der Emittentenqualität werde nun stärker als zuvor geplant angerechnet. Der Wettbewerber Scope hat bereits reagiert und berücksichtigt nun seit einigen Wochen Credit Spreads in seinen Ratings.
'KEIN TEUFELSZEUG'
Fachleute schließlich warnen vor diesem Hintergrund, die gesamte Zertifikate-Branche pauschal für die Lehman-Pleite in Haftung zu nehmen. Marktstratege Robert Halver von der Baader Bank etwa sagte: "Zertifikate sind kein Teufelszeug." Vielmehr sei in den letzten Wochen deutlich geworden, dass bei diesen strukturierten Produkten ebenso auf das Ausfallrisiko geachtet werden müsse wie bei Unternehmensanleihen. Nach wie vor böten Zertifikate die Möglichkeit, je nach individueller Risikoneigung an den Chancen des Kapitalmarktes zu partizipieren./la/fat/js/zb/wiz
--- Von Lutz Alexander, dpa-AFX ---
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