04.11.2013 19:08:58

DER STANDARD-Kommentar "Selektives Recht" von Gudrun Harrer

Der Prozess gegen die Muslimbrüder verstärkt die Polarisierung in Ägypten weiter

Wien (ots) - Man kann die Frage, ob der abgesetzte ägyptische Präsident Mohammed Morsi und vierzehn andere hohe Muslimbrüder am Tod von gegnerischen Demonstranten im Dezember 2012 schuld sind, keinesfalls abtun: Es gibt keine Straffreiheit für kriminelle Handlungen von Staatschefs, und die Umstände, bei denen Menschen gewaltsam zu Tode kommen, müssten ja immer nach Verantwortlichkeiten geprüft werden. Aber das ist gleichzeitig auch genau der Grund, warum der Prozess gegen Morsi, der am Montag kurz nach Beginn auf Anfang Jänner vertagt wurde, dennoch Unbehagen auslöst: Viele andere hunderte Tote der vergangenen drei Jahre werden ungesühnt bleiben. Das Recht ist selektiv, es gilt nur für diejenigen, die auf jener Seite standen, die heute die "richtige" ist. Der neuen Führungsschicht fehlt es bei ihrem Vorgehen an Gespür für Optik. Dass es schlecht aussieht, wenn der 2011 gestürzte Hosni Mubarak im gleichen Gerichtssaal - der Polizeiakademie in Kairo - freigesprochen werden könnte, in dem Morsi vielleicht verurteilt wird, wird nicht in Betracht gezogen. Während Mubarak, der dreißig Jahre lang einen beinharten Polizeistaat regiert hat, Chancen hat, dass die Frage nach seiner individuellen Schuld mit Nein beantwortet wird, wird mit Morsi dem ganzen System "Muslimbruderschaft" der Prozess gemacht. In Wahrheit gehören beide Systeme - natürlich bereits in der Zeit lange vor Mubarak - zusammen, eines hat sich vom anderen genährt. Prozesse gegen Mitglieder gestürzter Regime sollten im Idealfall nicht nur Schuldfragen zu klären versuchen, sie sollten einen zweiten, tieferen Sinn haben:_die Vergangenheitsbewältigung, die einem Land, einer Gesellschaft einen neuen Konsens darüber erlaubt, in welche Richtung es danach gehen soll. Diese Debatte fehlt in Ägypten völlig. Einen Plan zur Reintegration der Anhänger der Muslimbrüder, die diese an die Macht gewählt haben, gibt es nicht. Die Polarisierung zwischen religiöser Rechter und dem Sicherheitsstaat, die Ägypten zu zerreißen droht, wird geradezu zelebriert. Diese Polarisierung lässt keine Mitte zu - ohne die es jedoch keine Demokratisierung geben kann. Die wenigen dissenten Stimmen werden von beiden Seiten als Feinde angesehen. Mit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings hätten die Menschen im Nahen Osten und in Nordafrika die Angst verloren, hieß es Anfang 2011. Knapp drei Jahre später ist ein Großteil der Ägypter und Ägypterinnen wieder bereit, aus Angst Kompromisse zu schließen, was ihre Freiheit anbelangt: Nichts könnte das deutlicher machen als die hohe Zustimmungsrate, die die Absetzung der TV-Sendung des Satirikers Bassem Youssef erhält. Er hatte den Personenkult rund um General Abdel Fattah al-Sisi, der Ägyptens nächster Präsident werden könnte, durch den Kakao gezogen. Man darf die Vorgeschichte nicht vergessen: Die Muslimbrüder, die sich jetzt in der Opferrolle sehen, haben durch ihre skrupellose Machtpolitik und Gewaltbereitschaft den Ägyptern den Glauben geraubt, dass Wahlen genügen, um ihr Land auf die richtige Schiene zu bringen. Enttäuschung und Wut sind berechtigt - das damit einhergehende Vertrauen in den anderen Pol, das Sicherheitsestablishment, jedoch nicht. Politischer Liberalismus kann sich nicht darauf beschränken, gegen den politischen Islam zu sein. Aber genau damit gibt sich nun ein Teil der Elite wieder zufrieden.

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