06.03.2014 16:36:34
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Börse Frankfurt-News: Demographische Probleme mit Verspätung (Hüfner)
Vor Kurzem sah ich im Sozialbericht der Bundesregierung eine Grafik, die mich stutzig machte. Jeder redet über die demographischen Belastungen, unter denen Deutschland leidet. Die Menschen werden älter. Die Gesamtzahl der Bevölkerung geht zurück. Das verringert das gesamtwirtschaftliche Wachstum, führt zu Knappheit am Arbeitsmarkt und wirft Probleme bei der Finanzierung der Sozialversicherung auf.
Wenn man sich die Zahlen jedoch genauer anschaut, dann sieht das Bild gar nicht so dramatisch aus (siehe Grafik). Im Gegenteil. Seit nunmehr drei Jahren geht die Zahl der Einwohner in Deutschland nämlich nicht zurück. Sie steigt vielmehr deutlich an. Von 2011 bis 2013 hat sie sich um 600.000 = 0,7 Prozent erhöht. Allein im vergangenen Jahr sind nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes 300.000 Menschen dazu gekommen.
Natürlich sterben in Deutschland immer noch mehr Menschen als Kinder geboren werden. Daran hat sich auch durch die zahlreichen Maßnahmen zur Förderung junger Familien in den letzten Jahren nichts geändert. Im Gegenteil, das Geburtendefizit ist kontinuierlich größer geworden. Es betrug im Jahr 2012 rund 200.000. Das war der höchste Stand seit der Wiedervereinigung.
Wo sich die Lage jedoch verändert hat, ist bei den Wanderungen. Im Jahr 2012 sind per Saldo rund 400.000 Menschen aus dem Ausland nach Deutschland gezogen. So viel waren es seit den Jahren der Wiedervereinigung nicht mehr (als es die hohen Zuzüge aus Russland und Osteuropa gab).
Was ergibt sich nun aus dem veränderten demographischen Bild für Wirtschaft und Finanzmärkte? Zunächst sollte man mit zu weitreichenden Schlussfolgerungen vorsichtig sein. Die Grafik zeigt, dass die Wanderungen keineswegs eine verlässliche Komponente sind. Anders als die Geburtenüberschüsse gehen sie mal hoch und mal runter. Auch der jetzige Anstieg dürfte nicht ewig so weitergehen.
Was das Wirtschaftswachstum betrifft, sind die oft beklagten negativen Auswirkungen der Demographie zumindest derzeit nicht zu erkennen. Die Konjunktur wird durch die Bevölkerungsentwicklung nicht beeinträchtigt. Sie bekommt vielmehr zusätzliche Impulse. Im vergangenen Jahr war die Bevölkerung der wichtigste Wachstumstreiber. Sie erhöhte sich um 0,3 Prozent, das Sozialprodukt um 0,4 Prozent.
Das gilt insgesamt gesehen auch für den Arbeitsmarkt. Es gibt - noch - keine Knappheit an Arbeitskräften, weil immer mehr dazu kommen. Allerdings muss man hier natürlich das unterschiedliche Qualifikationsniveau berücksichtigen. Das, was von den Unternehmen gebraucht wird und das, was von den Zuwanderern angeboten wird, fällt nicht zwangsläufig zusammen. Vor allem der Facharbeitermangel kann nicht oder jedenfalls nicht zum größten Teil durch Migranten behoben werden.
Die großen Schwierigkeiten bei der Finanzierung der Sozialversicherung, die sich aus der Demographie ergeben sollten, sind derzeit ebenfalls nicht da. Die große Koalition kann ihre finanziellen Versprechen bei der "Rente mit 63" und der erweiterten Mütterrente realisieren, ohne dazu die Beiträge oder die Steuern zu erhöhen. Damit hatte niemand gerechnet. Das lag daran, dass wir den Zuwachs der Bevölkerung nicht im Kopf hatten.
Auf Dauer ist das aber nur durchhaltbar, wenn die Zuwanderung hoch bleibt. Wenn immer mehr Beitragszahler aus dem Ausland dazu kommen, dann hat die Sozialversicherung genügend Geld, um die bestehenden Leistungen zu bezahlen und auch neue Leistungen zu beschließen. Das ist aber nur das bekannte "Ponzi-System", benannt nach dem italienischen Anlagebetrüger Charles Ponzi vor 100 Jahren. Er bezahlte damals die Zinsen auf die von ihm ausgegebenen Schuldverschreibungen aus den Mittelzuflüssen neuer Kunden. Das funktionierte aber nur so lange, wie es immer wieder neue Zuflüsse gab. In dem Augenblick, in dem der Zufluss stagniert beziehungsweise zurückgeht, kommt das System in die Bredouille. Charles Ponzi ging damals pleite. Die Sozialversicherung wird die Beiträge erhöhen müssen oder braucht Steuerzuschüsse.
Das hat Konsequenzen für die Politik. Sicher ist nichts dagegen zu sagen, die Finanzierung der Sozialversicherung auch auf den Beiträgen der Zuwanderer zu basieren. Man darf aber nicht gleichzeitig die hohe Zahl der Zuwanderer kritisieren und versuchen, die Migration einzudämmen, wie das in manchen Kreisen derzeit getan wird. Beides widerspricht sich. Entweder man akzeptiert die Zuwanderung. Dann hat die Sozialversicherung Geld. Oder man akzeptiert sie nicht. Dann müssen aber auch die Leistungen eingeschränkt werden. Ich habe das Gefühl, dass das in der deutschen Politik nicht immer ganz verstanden wird. Im Englischen sagt man: You can't have the cake and eat it - Man kann sich nicht über den Kuchen freuen und ihn gleichzeitig essen.
Für den Anleger
Verschieben Sie die Sorgen über die Belastungen, die von der Demographie für die Kapitalmärkte ausgehen. Sie sind derzeit noch nicht gerechtfertigt. Es gibt noch keine demographisch bedingte Knappheit an Anlagemitteln. Das kann und wird sich aber ändern, wenn die Zuwanderung eines Tages geringer wird. Verschieben Sie jedoch in keinem Fall die eigene Altersvorsorge im Vertrauen auf anhaltend großzügige Rentenversprechungen der Sozialpolitiker.
Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com.
von Martin Hüfner, Assenagon
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© 6. März 2014
Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG. Er leitete fünf Jahre den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung in Brüssel. Zudem war er über zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender beziehungsweise Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Bundesverbandes Deutscher Banken und Mitglied des Schattenrates der Europäischen Zentralbank, den das Handelsblatt und das Wallstreet Journal Europe organisieren. Dr. Martin W. Hüfner ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem "Europa - Die Macht von Morgen" (2006), "Comeback für Deutschland" (2007), "Achtung: Geld in Gefahr" (2008) und "Rettet den Euro!" (2011)
(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder anderen Vermögenswerten.)
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