24.05.2019 21:07:42
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Allg. Zeitung Mainz: Ein Fest / Kommentar von Lars Hennemann zur Europawahl
Mainz (ots) - Was wählen wir an diesem Wochenende eigentlich? Eine
Frage, die in den zurückliegenden Wochen und Monaten zwischen all den
dramatischen Warnungen vor dem angeblich bevorstehenden Untergang des
europäischen Abendlandes auf der einen und der von Populisten
jedweder Sorte offen zur Schau getragenen Demokratieverachtung auf
der anderen Seite viel zu selten gestellt worden ist. Wir wählen ein
Parlament, die direkte Vertretung des Volkes respektive der Völker
Europas. Und dieses Parlament ist viel besser als sein Ruf. Es
funktioniert oft ganz anders als der Bundestag, die französische
Nationalversammlung oder die traurige Versehrtengruppe, die die
Briten immer noch trotzig als Unterhaus bezeichnen.Im Laufe seiner
Geschichte hat das EU-Parlament den nationalen Regierungen und der
nicht demokratisch bestimmten Kommission viele Rechte abgetrotzt. Und
nicht immer, aber an vielen Stellen arbeitet es so, wie ein Parlament
arbeiten sollte: Es filetiert jede Vorlage eines Kommissars, egal,
welches Parteibuch dieser Kommissar hat. Das kann es, weil es in
hohem Ausmaß ein Expertenparlament ist. Anders als (nicht nur)
hierzulande, wo über die drei Stationen Kreißsaal, Hörsaal,
Plenarsaal immer öfter stromlinienförmige Politkarrieren produziert
werden, finden sich in Straßburg Selbstbewusstsein und
Unabhängigkeit. Ein EU-Parlamentarier ist vielfach freier als sein
nationaler Kollege. Er kann sich viel öfter um die Sache kümmern als
nur Statist in durchchoreografierten Rede-Ritualen zu sein.Das allein
garantiert noch keine Spitzenergebnisse an jeder Ecke. Europas
Agrarpolitik etwa ist nach wie vor ein superteurer Witz. Sie
produziert auf ruinöse Weise Überschüsse, die kein Mensch braucht.
Mit Glyphosat, das in den USA giftig ist, aber bei uns nicht. Aber
bereits bei diesem Thema waren die Parlamentarier mutiger als die
Mitgliedsländer (man erinnere sich nur an das Umfallen des
zuständigen deutschen Ministers). Und bei einer ganzen Reihe von
Themen setzte das Parlament wichtige Themen gleich ganz durch:
Genannt seien hier nur das Verbot vonPlastiktüten und -trinkhalmen
oder die Vereinbarung zum Schutz der Menschenrechte durch
transnationale Unternehmen. Und die wohl umstrittenste Entscheidung,
die Reform des Urheberrechtes, bei der man einer gigantischen
Lobbyistenschlacht einiger der umsatz- und meinungsstärksten Konzerne
widerstand, die die Welt bislang gesehen hat. Man stelle sich das in
Deutschland vor, wo Bundestag (und Regierung) jahrelang untätig quasi
im Auspuff der Autobauer gewohnt haben ...Das Europaparlament ist
also nicht die Schwatzbude, als die man es von einschlägig
interessierter Seite so gerne hinstellt. Es ist auch stark genug,
perfide Gestalten wie Nigel Farage auszuhalten, der von dem Europa,
das er mit Lügen bekämpft, ganz gut leben kann. Oder einen Martin
Sonneborn, bei dem man sich allmählich fragen muss, ob er noch der
lustige Satiriker ist, der er auf alle Fälle einmal war, oder schon
eine traurige Kopie der italienischen Fünf-Sterne-Populisten. Vor
allem aber ist das Parlament weltweit absolut einzigartig: Keine
andere überstaatliche Organisation dieser Bedeutung und Wirkmacht
wird direkt demokratisch gewählt. Und es sind fast 420 Millionen
Menschen, die diese Institution wählen dürfen. Dürfen, nicht müssen.
Dieses Privileg sollten wir uns weder von den Feinden der Freiheit
aus der Hand nehmen lassen noch selbst schlecht reden. Bei allen
Problemen und Defiziten, an denen es in Europa unbestritten und ohne
Verzug zu arbeiten gilt, ist der Wahltag also zuvorderst eines: ein
Fest.
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