22.07.2022 19:35:38
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OTS: Börsen-Zeitung / Zins-Déjà-vu, Marktkommentar von Kai Johannsen
Zins-Déjà-vu, Marktkommentar von Kai Johannsen
Frankfurt (ots) - Es ist derzeit ziemlich wacklig an den Märkten; das ist die
vergangenen Wochen immer wieder zu beobachten gewesen, und das wird auch so
bleiben. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist in der gerade abgelaufenen Woche
auch auf den Zug der Leitzinsanhebungen aufgesprungen und erhöhte den Leitzins
um 50 Basispunkte (BP). Die Reaktionen an den Märkten: Euro zieht kurz an, dann
verpufft die Wirkung, und die Gemeinschaftswährung geht wieder auf Tuchfühlung
mit der Parität. An den Aktienmärkten ein kurzer Sprung nach oben, dann der
Rücksetzer. An den Staatsanleihemärkten ziehen die Renditen in Reaktion auf den
Zinsentscheid kurz an, aber der anschließende Rückgang der Renditen fällt fast
doppelt so stark aus wie der vorangegangene Anstieg. Am Freitag dann sogar noch
der Rutsch der zehnjährigen Bundrendite unter die 1-%-Marke. Furcht vor
Rezession - das ist die Erklärung.
Eine weitere Entwicklung ist in der Nachrichtenflut um Leitzinsanhebungen nicht
zuletzt bei der EZB und die Gasversorgung, die ja auch ihren Teil zur
wirtschaftlichen Malaise beiträgt, praktisch untergegangen: die Zinsstruktur in
den USA. Dass die Renditestrukturkurve in den USA in diesem Jahr schon mal
invers geworden ist, also die langfristigen, zehnjährigen US-Renditen unter die
zweijährigen Pendants fielen, ist zwar keine neue Nachricht. Das Ausmaß, das
mittlerweile erreicht wurde, ist es dagegen schon. Bis auf 27 BP fielen die
zehnjährigen US-Renditen in diesen Tagen unter die Rendite der zweijährigen
US-Schuldtitel. Eine Inversion dieses Ausmaßes haben Marktakteure zuletzt vor
rund zwei Dekaden gesehen, genauer gesagt im Jahr 2000. Manch einer erinnert
sich: Das war, als manche Marktakteure sich sorgten, dass es zu einem Platzen
der New-Economy- bzw. Dotcom-Blase kommen könnte. Viele hielten das nicht für
möglich, zu hochgesteckt die Erwartungen, die manch einer eben nicht als zu
hochgesteckt ansehen wollte. Viele glaubten auch, dass ein Ende einer derartigen
Entwicklung keine erheblichen realwirtschaftlichen Auswirkungen mit sich bringen
würde. Es kam anders.
Die Inversion der Renditestrukturkurve in den USA - aber auch anderswo - ist in
den vorigen Jahrzehnten ein verlässlicher Signalgeber für die
realwirtschaftliche Entwicklung gewesen, ging doch praktisch jeder US-Rezession
eine inverse Zinsstrukturkurve voraus. Der zeitliche Vorlauf betrug vier bis
acht Quartale. Nur sehr selten kam es in Volkswirtschaften zu einer
Zinskurveninversion, auf die dann keine Rezession folgte. Deshalb gilt die
Inversion eben als ein sehr sicheres konjunkturelles Signal.
Bei einer Inversion stellen sich Marktteilnehmer auf folgende Entwicklung ein:
Sie antizipieren eine Rezession - aus welchen jeweiligen aktuellen Gründen auch
immer - und stellen sich darauf ein, dass die Notenbank(en) hierauf auf längere
Sicht mit Leitzinssenkungen reagieren, um der Wirtschaft wieder auf die Beine zu
helfen. Diese Erwartungshaltung ist ablesbar an den längerfristigen niedrigeren
Bondrenditen im Vergleich zu den kurzfristigen Bondsätzen. Der Markt geht davon
aus, dass auf längere Sicht die Zinsen/Anleiherenditen wieder fallen müssen.
Darüber spiegelt der Markt das antizipierte Konjunkturszenario.
Aktuell erwarten viele Marktakteure, dass die Notenbanken im Kampf gegen die
hohe Inflation weiter mit Leitzinsanhebungen reagieren. Die Erwartung sieht aber
dergestalt aus, dass die höheren Leitzinsen zum Ausbremsen der Teuerungsanstiege
das Wachstum in Mitleidenschaft ziehen, sogar die Rezession die Folge sein
könnte. Eine Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters zeigte dieser Tage, dass
Volkswirte die Wahrscheinlichkeit einer Rezession in den USA auf Sicht von einem
Jahr nun mit 40 % angeben. Auf Sicht von zwei Jahren sehen die Experten die
Wahrscheinlichkeit eines Konjunktureinbruchs bei 50 %. Bei der entsprechenden
Umfrage im Juni lagen die diesbezüglichen Werte hingegen noch bei 25 % (Sicht
auf ein Jahr) bzw. bei 40 % (zwei Jahre). Das spricht schon eine deutliche
Sprache. Und auch in den Einschätzungen von Banken und Assetmanagern wird die
Rezession für immer wahrscheinlicher gehalten. Die Märkte könnten vor diesem
Hintergrund in den kommenden Tagen und auch vier bis fünf Wochen bei schwachen
Konjunkturdaten heftig reagieren. Denn es kommt ein weiterer Faktor erschwerend
hinzu: das Sommerloch und damit eine geringere Liquidität aufgrund der
urlaubsbedingten Abwesenheit weiter Anlegerkreise. Da fallen Reaktionen auch
gern mal schärfer aus.
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