07.11.2014 21:07:58

Schwäbische Zeitung: Biermanns Deutschstunde - Leitartikel

Ravensburg (ots) - Welch ein Paukenschlag im Konzert der sattsam bekannten Freudenbekundungen zum 25. Jahrestag des Falls der Mauer! Wolf Biermann, den man - ohne beleidigend zu sein - getrost Rampensau nennen darf, hält sich im Bundestag nicht an die Regeln. Er redet, wo er singen sollte, er knöpft sich die Linke vor, "die elenden Reste der Drachenbrut".

Was für eine kluge Idee, Wolf Biermann in den Bundestag einzuladen! Dass dieser Mann nicht einfach Gitarre spielen wird, dürfte Bundestagspräsident Norbert Lammert geahnt haben. Statt der ewig gleichen hochtrabenden Worte zur Deutschen Einheit ein Mann, der unter dem DDR-Regime gelitten hat, der im Westen leben musste, weil sein Staat ihn, den Unbequemen, ausbürgerte. Ein 77-Jähriger, der doch so viel jünger ist als viele Junge.

Besser hätte man das Wochenende des Mauerfall-Gedenkens kaum beginnen können, als mit jemandem, der immer noch die Wut auf die Diktatur in sich trägt. Der sich die Linken vorknöpft, die doch so viel lieber in die Zukunft blicken wollen. Die sich aus der Geschichte, aus ihrer eigenen Geschichte als SED-Nachfolger, wegstehlen wollen. Und welch ein Glücksfall für die Demokratie, wenn ein Mann wie Wolf Biermann im Bundestag auftreten kann, und die Linken ihm freiwillig zuhören - auch das muss gewürdigt werden.

Wenn Joachim Gauck und Michail Gorbatschow, Lech Walesa und Wolf Biermann am Sonntagabend die beleuchteten Ballons in den Berliner Himmel steigen lassen werden, wird eindrucksvoll daran erinnert, dass die Mauer Geschichte ist. Im Bundestag aber wurde nicht weniger eindrucksvoll demonstriert, dass Geschichte lebt. Dass es immer noch zornige Opfer gibt und Politiker, die wenig aus der Geschichte lernen. Die Deutschen sollten an diesem Tag neben allem berechtigten Stolz auf Männer wie Biermann sich auch daran erinnern, dass sie Teil einer Bewegung waren, die Europa verändert hat. Dass jenes gemeinsame Haus Europa, von dem Michail Gorbatschow damals träumte, heute wie damals noch weit weg ist.

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