07.11.2014 20:52:58

Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Vor 25 Jahren ging die Berliner Mauer auf Der Mantel der Geschichte Thomas Seim

Bielefeld (ots) - Es gibt Augenblicke im Leben eines Journalisten, die man jederzeit vollständig und bis ins Detail genau aus der eigenen Erinnerung abrufen kann. Der Fall der Berliner Mauer war so ein Augenblick. Ich werde das Gesicht und die Augen meines Chefs beim Zusammenbau der Zeitung an jenem 9. November 1989 nie vergessen. Wir hatten alles fertig und waren kurz vor dem Druck - da klingelte das Telefon und er flüsterte mir mit einer Mischung aus Überraschung, Unglauben, Freude und - angesichts des bereits abgelaufenen Redaktionsschlusses der Post-Ausgabe - Panik leise zu: Die machen die Mauer auf. Der Sekundenstillstand löste sich damals schnell in Betriebsamkeit und Professionalität auf: Alles neu! Die ganze Zeitung. Das entsprach der Wirkung des bis dahin für unmöglich gehaltenen Ereignisses: Deutschland erfand sich neu. Im Bundestag sangen die Abgeordneten die Nationalhymne. Kollegen schwangen sich irgendwo im Westen ins Auto und rasten nach Berlin. Bis tief in die Nacht produzierten wir Zeitungen als Dokumente der Bgeisterung: Berliner tanzten auf der Mauer. Es wehte der Mantel der Geschichte. Alles schien möglich: Zwei deutsche Staaten, die Wiedervereinigung, das Ende der Block-Konfrontation in Ost und West, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wohlstand. Blühende Landschaften gar. Es herrschte Überschwang allenthalben. Tränen flossen bei den Älteren. Wir Jüngeren blieben nüchterner. Aber das Gefühl, Geschichte zu erleben, hatte für alle etwas Wunderbares. Ein Vierteljahrhundert später gibt es viele Gründe zum Feiern. Für einen kurzen Augenblick öffnete die Geschichte den Deutschen die Chance zur Wiedervereinigung. Wir haben sie genutzt. Heute könnten wir angesichts der sich neuerlich zuspitzenden Spannungen zwischen Ost und West, angesichts der wachsenden regionalen Konflikte in allen Teilen der Welt keineswegs mehr sicher sein, dass dies ein zweites Mal gelingen würde. Aber so blühend wie einst versprochen ist es auch noch nicht geworden. Vielen geht es besser, insbesondere in den neuen Bundesländern. Viele Gebäude sind renoviert, viele Straßen und Autobahnen dort in tadellosem Zustand. Aber in den so genannten alten Bundesländern ist Vieles liegen geblieben, was längst hätte erneuert werden müssen. Brücken, Straßen, Häuser. Es gibt viele Gewinner, aber auch ein paar Verlierer. Die große Begeisterung über die Einheit in Einigkeit ist an vielen Stellen einer gewissen Ernüchterung gewichen. 25 Jahre haben noch nicht ausgereicht, annähernd gleiche Lebensverhältnisse für alle in Deutschland lebenden Menschen herzustellen. Wer heute den Blick auf leere Kassen, Schulden, Steuern, Länderfinanzausgleich und die Rückkehr der Kleinstaaterei richtet, kommt leicht zu dem Ergebnis, dass der Schwung verloren gegangen ist. Den brauchen wir aber, um das Werk zu vollenden. Der Rückzug ins Private, in die kleine private Idylle guter Bürgerlichkeit reicht nicht, um das Werk zu vollenden. Der Egoismus des eigenen Sprengels ist gefährlich. Wir brauchen noch ein wenig Anstrengung, um auch diejenigen mitzunehmen und für dieses Werk zu begeistern, die noch im Abseits stehen und bislang zu den Verlierern gehören. Nur wer teilhaben darf, lässt sich für das große Ganze begeistern und widersteht schlichter radikaler Versuchung. Das galt und gilt bis heute. Übrigens nicht nur für die Überwindung der deutschen Teilung, sondern auch für die Vollendung der europäischen Einigung. Geschichte hört nicht auf. Sie will immer wieder neugestaltet werden.

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