30.06.2008 11:03:00
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FOKUS: Sparzwang erreicht in Deutschland innovative Präparate
Von Heide Oberhauser-Aslan
Dow Jones NEWSWIRES
FRANKFURT (Dow Jones)--Jedes Jahr erkranken in Deutschland 50.000 Menschen an einer Krankheit, die sie im schlimmsten Fall das Augenlicht kosten kann: die "feuchte Makuladegeneration" oder feuchte AMD. Seit Mitte Juni können AOK-Versicherte in Deutschland mit einem Mittel gegen diese Krankheit geheilt werden: "Lucentis" des schweizerischen Pharmakonzerns Novartis.Das an sich ist eine gute Nachricht, doch hätte Lucentis bereits seit mehr als einem Jahr eingesetzt werden können, wenn sich Novartis und die deutschen Krankenkassen nicht über die Kosten für die Behandlung streiten würden.
Die Behandlung eines Patienten kostet Medienberichten zufolge im Regelfall zwischen 3.900 und 4.500 EUR, im Jahr wäre das für Novartis ein Umsatzpotenzial von bis zu 225 Mio EUR gewesen. In anderen Berichten war sogar von einem möglichen Umsatz von mehr als 300 Mio EUR die Rede gewesen.
Nun ist Lucentis das einzige zugelassene wirksame Mittel gegen die feuchte AMD - und trotzdem wird erbittert um den Preis gerungen. Denn die deutschen Krankenkassen müssen Geld sparen - und haben nach den Generikaanbietern nun die Hersteller von Originalpräparaten ins Visier genommen.
Der Markt für Originalpräparate hat in Deutschland ein Volumen von rund 17 Mrd EUR und verspricht noch hohes Einsparpotenzial. Und es ist durchaus noch nicht ausgemacht, welches der Pharmaunternehmen letztlich zu den Gewinnern der neuen Entwicklungen gehören wird.
Der 4,6 Mrd EUR schwere deutsche Generikamarkt hat bereits einen für viele Unternehmen schmerzhaften Prozess hinter sich: überwiegend haben die Pharmaunternehmen mit den Krankenkassen Rabattverträge ausgehandelt, anstatt über einen eigenen Vertrieb auf die einzelnen Ärzte zuzugehen. Damit sollten die Kosten der Krankenkassen gedrückt werden, zudem wurden die großen Pharmavertriebe zumindest teilweise überflüssig.
"Die großen Einsparmöglichkeiten sind nicht mehr im Generikabereich da, durch Rabattverträge, sondern im Geschäft mit innovativen Arzneimitteln", sagt Rolf Fricker, Partner und Pharmaexperte von Booz & Company. "Die Pharmaunternehmen beschäftigen sich zwangsläufig alle mit dem Thema Direktverträge", erklärt der Pharmaexperte. Er sieht in 3 bis 5 Jahren 25% bis 30% der innovativen Arzneimittel in Kooperationsverträgen.
Und das könnte sich noch als eine konservative Schätzung herausstellen, sagt Simone Seiter, Leiterin der Consultingsparte des Marktforschungs- und Beratungsunternehmens für die Pharma- und Gesundheitsbranche IMS Health, mit Verweis auf die vielen bereits abgeschlossenen Verträge. "In der Pharmaindustrie hat es ein Umdenken gegeben."
Lucentis ist dabei eines der ersten Präparate, um dessen Preis bereits bei der Einführung in Deutschland gerungen wurde. Eigentlich können Pharmaunternehmen bei patentgeschützten Medikamenten ihre Preise selbst festsetzen, doch bei Lucentis hatte der Preis zu einer Welle der Entrüstung geführt, gibt es doch ein ähnlich wirkendes Präparat namens "Avastin" von Roche.
Nun ist Avastin für die Behandlung von feuchter AMD gar nicht zugelassen, sondern nur für die Behandlung bestimmter Krebsarten - aber es wirkt eben und so haben verschiedene Augenärzte begonnen, diese Präparat zu verabreichen. Kosten einer Spritze Lucentis: 1.300 bis 1.500 EUR, Kosten einer Avastin-Spritze: 40 EUR.
Nach mehr als einem Jahr wurde nun zwischen dem AOK Bundesverband und Novartis eine Vereinbarung getroffen, die die Kosten für die Krankenkasse bei Lucentis deckelt. Details zu dieser Einigung wollen die beiden Beteiligten allerdings nicht nennen. Verträge mit weiteren Krankenkassen sind nicht ausgeschlossen. Novartis sei offen für Gespräche mit anderen Kassen, erklärte ein Konzern-Sprecher auf Anfrage.
Auch ohne Details macht der Vorgang deutlich, dass um den Markt der verschreibungspflichtigen Medikamente in Deutschland künftig mit härteren Bandagen gerungen wird. Zwar gibt es bereits eine ganze Reihe von Rabattverträgen zwischen Pharmakonzernen und den Krankenkassen, doch werden nun anscheinend auch zunehmend neue Medikamente auf den preislichen Prüfstand gestellt.
Noch steht allerdings der Rabatt bei bereits existierenden Verträgen für Originalpräparate im Vordergrund. Die Pharmaunternehmen nutzen dieses Instrument vor allem, um ihren Marktanteil zu halten, wenn der Patentablauf droht oder die Erstattungspflicht der Kassen für das Medikament entfallen ist.
So hat Pfizer mit der Deutschen BKK im Oktober 2007 Rabatte für den Cholesterinsenker "Sortis" vereinbart, um Marktanteile zu sichern. Hintergrund war, dass der Gemeinsame Bundesausschuss entschieden hatte, nur noch den Preis von günstigeren Präparaten von den Gesetzlichen Kassen erstatten zu lassen - mit der Konsequenz, dass Sortis Marktanteile verlor. Nach Aussage der Deutschen BKK sind seit Vertragsbeginn bereits etliche Versicherte auf Sortis umgestellt worden.
Der Pharmakonzern Eli Lilly hat bislang für zwei Produkte Direktverträge mit gesetzlichen Kassen in Deutschland geschlossen, unter anderem für das Antipsychotikum "Zyprexa". Für das Mittel hatte das Bundespatentamt das Patent vorzeitig für nichtig erklärt. Durch den Direktvertrag könne das Unternehmen trotz Generikakonkurrenz nun weiter am Markt partizipieren, sagte eine Sprecherin.
Ob die Direktverträge die Pharmaunternehmen eher belasten oder entlasten werden, sei derzeit kaum zu prognostizieren, sagen Fachleute. "Der Druck auf die Pharmaunternehmen wird natürlich größer", urteilt Fricker. "Andererseits sind derartige Direkt- oder Mehrwertverträge für die Pharmaindustrie eine Chance, um Marktanteile bei signifikant niedrigeren Kosten auszuweiten." Denn die Konzerne benötigen ihre teuren Außendienste nicht mehr.
Während die reinen Rabattverträge vor allem dazu dienen sollen, Einnahmen und Marktanteile auch noch zum Ende des Patentschutzes zu sichern, fällt der Fall Lucentis auch noch in eine andere Kategorie von Vereinbarungen: Cost-Sharing.
Hier werden die Pharmaunternehmen nämlich gezwungen, mittels spezialisierter Verträge die Risiken im Falle des Fehlschlagens der Therapie zu tragen ("Risk-Share") oder Kosten zu deckeln ("Cost-Share"). Einen "Cost-Sharing-Vertrag", bei dem das Pharmaunternehmen mit Krankenkassen oder Kliniken Preisobergrenzen für ein teures Arzneimittel vereinbart, bietet beispielsweise auch Roche den Krankenkassen an. Er gilt für die bei Brustkrebs und Nierenzellkarzinom erforderliche hochdosierte Behandlung mit dem Krebsmittel "Avastin".
Einen "Risk-Share"-Vertrag, bei dem das Unternehmen eine "Geld-zurück-Garantie" verspricht, wenn das Medikament nicht die erwartete Wirkung zeigt, hat Novartis mit der Barmer Ersatzkasse und der DAK vereinbart. Er gilt für das Osteoporose-Präparat "Aclasta".
Bislang präsentieren sich die ausländischen Pharmaunternehmen bei Direktverträgen mit den Kassen als Vorreiter. Marktbeobachter führen das zum einen darauf zurück, dass das Druckpotenzial der Krankenkassen vor allem dort wirkt, wo es Konkurrenzprodukte gibt, auf die ausgewichen werden kann.
Da die deutsche Pharmaindustrie aber überwiegend Nischenplayer aufweist, sind hier die neuen Verträge noch relativ selten anzutreffen. "Es brodelt sehr viel unter der Oberfläche, die deutschen Hersteller versuchen aber tendenziell eher, ihr derzeitiges Geschäftsmodell beizubehalten", so Simone Seiter von IMS Health. So wartet die Darmstädter Merck KGaA derzeit noch ab. "Wir beobachten die diesbezüglichen Entwicklungen am Markt sehr intensiv und verschließen uns Gesprächen mit gesetzlichen Krankenkassen nicht generell", sagte ein Sprecher. Wie Rabattverträge für patentgeschützte Arzneimittel jedoch stringent zu Gunsten der rabattierten Präparate umgesetzt werden könnten, sei bislang noch nicht überzeugend herausgearbeitet, hieß es. Merck hat bisher 4 Rabattverträge abgeschlossen, unter anderem mit der Bahn BKK und der AOK.
Die anderem deutschen Pharmaunternehmen sehen sich derzeit nicht besonders unter Zugzwang und beobachten die Entwicklung. "Aufgrund unseres besonderen Sortiments sind wir, was Rabattverträge betrifft, nicht aktiv, weil wir einfach ein zu spezialisiertes Produktsortiment haben", lautet z.B. die offizielle Aussage von Bayer. "Wir beobachten natürlich auch diese Dinge und sind dabei, uns intern eine Meinung dazu zu bilden." Es gebe aber derzeit weder Pilotprojekte mit Krankenkassen für derartige Verträge noch Gespräche mit dem Ziel, solche Projekte einzurichten.
Auch der nach Umsatz zweitgrößte deutsche Pharmakonzern Boehringer Ingelheim hält sich bedeckt. "Wir haben noch keine Entscheidung getroffen und prüfen derzeit noch alle möglichen Optionen", sagte eine Sprecherin zu Dow Jones. Boehringer spreche aber mit allen relevanten Marktteilnehmern.
Pharmaexperte Fricker teilt die Einschätzung von Bayer und Boehringer. "Unternehmen, deren Produkte im harten Wettbewerb stehen, wie zum Beispiel Präparate gegen Herz-Kreislauf- oder Magen-Darmerkrankungen, haben einen deutlich höheren Druck kreativ zu sein als Unternehmen, die stärker in der Nische sitzen."
Gleichwohl sieht er für Zukunft erhebliche Umwälzungen voraus. Zu den Gewinnern werden seiner Ansicht nach diejenigen Unternehmen gehören, die am schnellsten lernen, wirklich kreative Modelle wie Mehrwertdienste anzubieten.
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Skeptischer ist Seiter. Sie rechnet damit, dass sich am Ende wie in den USA doch eher preisgetriebene Modelle durchsetzen werden, kombiniert mit einem Mehrwert für Patienten und Ärzte. In den neuen Konstrukten lägen zwar Chancen, aber auch Risiken, sagte sie. Die Unternehmen müssten sicherstellen, dass sie das, was sie vereinbaren, auch tatsächlich umsetzen können.
"Die Entwicklung, die wir in Deutschland haben, ist vergleichbar mit der Situation in den USA vor 10 bis 12 Jahren", sagt Seiter. Dort habe es zunächst einen Boom solcher Verträge gegeben. Es habe sich aber gezeigt, dass das Managen dieser Verträge extrem kompliziert sei.
Fricker erwartet auf lange Sicht, dass ähnlich wie in den USA 50% bis 80% der Originalpräparate über Direktverträge mit Krankenkassen vertrieben werden könnten. Seiner Einschätzung nach wird sich bis dahin auch der Krankenkassenmarkt konzentrieren und mehr Nachfragemacht haben. "Dann werden wir in Deutschland auch nicht mehr über 300 Krankenkassen reden, sondern maximal über 50."
-Von Heide Oberhauser-Aslan, Dow Jones Newswires; +49 (0)69 29 725 113, heide.oberhauser@dowjones.com
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